Digitaler Stress – Wenn der Fortschritt zur Last wird

Am Schreibtisch, im Wohnzimmer, am U-Bahn-Gleis und in der Hosentasche – überall begegnen uns Bildschirme und Pixel. Dahinter verbirgt sich Technik, die immer ausgefeilter wird und unser Leben einfacher macht. Aber ist das wirklich so? Oder bewirkt mehr Technik auch immer mehr Stress?

Medizinisch geprüft - Siegel
FACHLICH GEPRÜFT von Psychologin Sophie Schürmann

Wo sich einst Videokassetten stapelten, streamen heute Bewegtbilder auf millimeterdünnen Smart-TVs. Im Büro haben flache Tastaturen und gestochen scharfe Monitore die klobigen Computer der alten Arbeitswelt abgelöst – allein unsere alltägliche Technik-Ausrüstung ist Beweis genug für die fortschreitende Digitalisierung: Sie ist überall und schafft auf immer geringerem Raum immer mehr Möglichkeiten. Alles wird platzsparender, effizienter und leichter.

Trotzdem fühlt sich diese Entwicklung für viele Menschen mehr wie eine Belastung an, als eine Erleichterung. Gerade im Berufsleben – das mit seinen Pflichten, Deadlines und Konfliktpotenzialen ohnehin ein Nährboden für Stress ist – zeichnen sich auch die Schattenseiten der Digitalisierung ab.

Selbst Stress erlebt eine Digitalisierung

Digitalisierung bedeutet in erster Linie Veränderung. Welche Auswirkungender technologische Fortschritt insbesondere am Arbeitsplatz auf den Menschen und seine Gesundheit hat, ist Gegenstand der Studie „Digitaler Stress in Deutschland“ der Universität Augsburg und der Fraunhofer Projektgruppe Wirtschaftsinformatik unter der Leitung von Prof. Dr. Henner Gimpel.

2.640 Arbeitnehmer haben an der Studie teilgenommen. Es ist die erste Untersuchung, die der Frage nachgeht, wie verbreitet digitaler Stress in Deutschland ist, was ihn auslöst und vor allem welche gesundheitlichen Folgen er haben kann. Die Studienautoren haben dabei Arbeitnehmer mit aller Erfahrungslevel befragt: Das Durchschnittsalter der Studienteilnehmer lag bei knapp 48 Jahren bei einer Altersspanne zwischen 19 und 88 Jahren.

Was ist digitaler Stress?

Eine der Mitautorinnen ist Julia Lanzl, die sich als Doktorandin an der Universität Augsburg mit der Digitalisierung in der Arbeitswelt beschäftigt. Im Interview mit ottonova beschreibt sie digitalen Stress als ein „Stresserleben, ein Unwohlsein, das immer mehr Arbeitnehmer verspüren, weil sie zunehmend von digitalen Technologien umgeben sind.“

Deine kostenlose Vitamintabelle

Du willst deinen Vitaminspeicher mit natürlichen Lebensmitteln wieder auffüllen? Dann lade dir unsere kostenlose Vitamin-Tabelle herunter.

Wie facettenreich dieses Stresserleben ist, zeigt sich an den unterschiedlichen Faktoren, die digitalen Stress beeinflussen: Da ist zum Beispiel die Komplexität moderner Technik, die einschüchternd wirken kann. Oder das vage Gefühl, nicht ausreichend qualifiziert zu sein und zu wenig Kompetenz im Umgang mit digitalen Tools zu haben. „Für manche Menschen ist digitaler Stress auch die generelle Angst, den Job zu verlieren aufgrund von zunehmender Automatisierung oder weil jüngere Kollegen viel besser mit neuen Technologien umgehen“, ergänzt Julia Lanzl.

Faktoren Digitaler Stress Faktoren von digitalem Stress in Anlehnung an Terafdar et a. (2011), Ayyagari et al. (2011), Adam et al. (2016)

Jung oder alt – wer ist gestresster?

Digital Natives können gar nicht mehr ohne ihr Smartphone. Sie wachsen in einer vernetzten und technologisierten Welt auf und bedienen moderne Geräte intuitiv – kennt die Jugend überhaupt so etwas wie digitalen Stress? Und ob: „Eine der überraschendsten Erkenntnisse für mich war, dass insbesondere die Jüngeren stark betroffen sind von digitalem Stress, obwohl genau das die Menschen sind, die mit Technik aufwachsen und sich damit auskennen“, berichtet Julia Lanzl.

Laut der Studie ist digitaler Stress bei den 25- bis 34-Jährigen und bei den 35- bis 44-Jährigen – also vor allem bei den Digital Natives – am stärksten ausgeprägt, während Arbeitnehmer über 64 den geringsten digitalen Stress empfinden. Gerade die Älteren haben in ihrem langen Berufsleben wohl so viel erlebt, dass sie sich von all den modernen Features, die Einzug in ihren Arbeitsalltag halten, weniger stressen lassen, vermutet Julia Lanzl. Eine weitere These ist, dass ältere Arbeitnehmer an weniger digitalisierten Arbeitsplätzen arbeiten oder sich kurz vor der Rente einfach weniger Sorgen über die Auswirkung der Digitalisierung auf ihren Arbeitsplatz machen.

Hinzu kommt, dass digitaler Stress komplex und keinesfalls eindimensional ist. Das zeigt sich bei einem Blick auf die verschiedenen Auslöser, erklärt Julia Lanzl: „Es ist nicht nur die reine Erfahrung mit Technologien, die digitalen Stress versursacht. Es ist immer ein Zusammenspiel zwischen zwei Fragen: Wie viele Technologien umgeben einen Menschen in seiner Arbeitswelt und seinem Leben generell? Und wie passen die Anforderungen, die sich ihm stellen, mit den eigenen Ressourcen und der eigenen Kompetenz zusammen?“

Das bedeutet: Die Kompetenz eines Menschen und der Digitalisierungsgrad seines Arbeitsplatzes müssen auf einem Level sein. Ist das nicht der Fall, nimmt der digitale Stress überhand. „Damit erklären wir uns auch den höheren Stress bei jüngeren Menschen; sie sind viel mehr mit Technologien umgeben, als ältere Menschen“, fasst die Wissenschaftlerin eine wichtige Erkenntnis der Studie zusammen.

Digitalisierung beeinflusst die Gesundheit – nachweislich

Ein weiteres Ergebnis betrifft die Gesundheit von Arbeitnehmern: „Die Daten unserer Studie zeigen, dass digitaler Stress mit konkreten Gesundheitsbeschwerden zusammenhängt. Das war so bisher noch nicht belegt“, so Lanzl. Die Studie hat gezeigt, dass mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer mit hohem digitalen Stress unter Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und allgemeiner Müdigkeit leidet.

Bei diesen fünf Gesundheitsbeschwerden ist der Anteil an Betroffenen unter den Arbeitnehmern mit einem hohen Level an digitalem Stress um 21 bis 27 Prozentpunkte höher, als bei Arbeitnehmern mit niedrigem Level an digitalem Stress.

Aus dieser Erkenntnis leitet die Studie ab, dass übermäßiger digitaler Stress die Leistung von Arbeitnehmern reduziert und sich negativ auf ihre Psyche, ihre Gesundheit und ihre Work-Life-Balance auswirkt.

Wie können wir künftig entspannter arbeiten?

Wenn das nicht Grund genug ist, Maßnahmen zu ergreifen. „Die Studie hat uns geholfen, digitalen Stress und seine Folgen zu verstehen und hat mögliche Ansatzpunkte für Präventionsmaßnahmen aufgezeigt“, fasst Julia Lanzl zusammen. ​Genau solche Maßnahmen entwickelt das Team unter der Leitung von Prof. Dr. Henner Gimpel gerade in dem neuen Projekt Präditec (Prävention für sicheres und gesundes Arbeiten mit digitalen Technologien). Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts, das auf insgesamt drei Jahre angesetzt ist, werden erste Maßnahmen identifiziert und pilotiert.

Prof. Dr. Henner Gimpel Prof. Dr. Henner Gimpel

„Wir wollen spezifische Maßnahmen erarbeiten, prototypisch umsetzen und weiterentwickeln, damit Arbeit so organisiert werden kann, dass der Einsatz digitaler Technologien psychische Fehlbeanspruchung vermeidet“ - Prof. Dr. Gimpel

Jetzt twittern

Aber allein mit gesundem Menschenverstand lassen sich bereits Handlungsempfehlungen ableiten. In der Pflicht sehen die Studienautoren vor allem die Arbeitgeber: „Sie müssen die Arbeitnehmer mitnehmen, wenn sie neue Technologien einsetzen oder sogar ganze Arbeitsabläufe neugestalten und auf digitalisierte Technologien ausrichten. Das darf nicht von oben herab umgesetzt werden.“ Kommunikation ist also das A und O, um die Mitarbeiter von den Vorzügen der neuen Technologien zu begeistern.

Damit die Vorteile erlebbar werden und digitale Tools im Unternehmen schnell einsatzbereit sind, helfen Schulungen. Diese müssen keine lästigen Pflichtveranstaltungen sein, sondern eröffnen den Mitarbeitern auch Perspektiven: Denn wenn neue Technologien am Arbeitsplatz eingeführt werden, wächst der Schulungsbedarf. Es sind Ansprechpartner nötig, die bei Fragen zur Nutzung weiterhelfen. Statt also um ihren Job zu fürchten, können Mitarbeiter sich auch zu „Botschaftern“ neuer Technologien entwickeln und sich damit unverzichtbar machen.

Und nicht zuletzt muss ein offener und informierter Austausch über digitalen Stress möglich sein – auch über die Unternehmensgrenzen hinaus. Denn was die Studie zeigt ist, dass Zukunftssicherheit nicht nur ein Wunsch der Wirtschaft, sondern jedes Einzelnen ist. Die Digitalisierung sollte dabei keinen Stressfaktor darstellen, sondern vielmehr als Hebel gesehen werden. Das kann nur gelingen, wenn auch die Regierung sich mit den Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung auseinandersetzt. Die Studie „Digitaler Stress in Deutschland“ ist dafür ein wunderbarer Anfang.  

Wirf doch mal einen Blick in das Paper, um ein Gefühl für dein eigenes Stresslevel zu bekommen, und tausche dich mit deinen Kollegen aus. Du wirst überrascht sein, wie vielseitig die Meinungen zu diesem Thema sind!

Sophie Schürmann
HIER SCHREIBT Sophie Schürmann

Sophie ist Psychologin und Digital Health Enthusiastin. Nach ihrem Master in Business Psychology und verschiedenen Stationen in der Forschung und in der freien Wirtschaft, gründete sie gemeinsam mit Julia Maria Rüttgers und Maximilian Kirschning das Health Start-ups peers. peers. ist eine digitale Plattform, die Menschen den Zugang zu professioneller psychologischer Unterstützung vereinfachen möchte. In Gruppensitzungen werden Menschen in ähnlichen Lebenssituationen mit ähnlichen Hürden unter der Anleitung von Psychologen und Psychologinnen zusammengebracht. Die Inhalte und exklusive Lernmaterialien, die zur Verfügung gestellt werden, basieren auf der kognitiven Verhaltenstherapie.

Weitere Artikel finden
Sabrina Quente
HIER SCHREIBT Sabrina Quente

Sabrina ist freie Autorin für Versicherungs- und Digitalisierungsthemen. Sie war Redakteurin bei Fachzeitschriften und lernte als Content Editor bei ottonova die vielen Facetten der Versicherungswelt kennen.

Weitere Artikel finden

Weitere Artikel