Telemedallianz-Konferenz 2019: Die Telemedizin hat ein strukturelles Problem

Ein Arztbesuch über das Smartphone und ohne das Haus zu verlassen – für viele Menschen weltweit ist der digitale Arztbesuch bereits Standard. Und hierzulande? In Deutschland gleicht das Angebot solcher sogenannten Telemedizin-Services eher einem Flickenteppich. Wieso das so ist und warum Veränderung dringend notwendig ist, diskutierte ottonova mit Gesundheitsexperten.

Du kennst das: Ein Geburtstag steht an, aber dein Job hat dir keine Zeit gelassen, ein Geschenk zu kaufen. Wie gut, dass es das Internet gibt: Smartphone gezückt, die üblichen Online-Shops gecheckt und kurze Zeit später ist das Geschenk unterwegs. Warum kann nicht alles so einfach und bequem sein?

Auf dem Bayerischen Tag der Telemedizin, der am 21. März 2019 in München stattfand, stellten auch die Vertreter der Gesundheitsbranche genau diese Frage: Warum ist gesund zu werden – und zu bleiben – nicht genauso bequem wie Online-Shopping? Für viele Patienten ist es heute fast selbstverständlich, sich auch zum Thema Gesundheit im Internet zu informieren. Arztempfehlungen, Terminbuchungen, die Suche nach Hausmittelchen – laut Google betreffen mittlerweile 7 % aller täglichen Suchanfragen das Thema Gesundheit; das entspricht 70.000 Suchanfragen pro Minute.

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So beliebt ist Dr. Google

7 % aller täglichen Suchanfragen bei Google betreffen das Thema Gesundheit – das entspricht 70.000 Suchanfragen pro Minute. (Quelle: Google)

Ein Trend, der in der deutschen Gesundheitsbranche durchaus bekannt ist: „Von den Ärzten hören wir immer öfter, dass Patienten bereits mit selbsterhobenen Daten in die Praxis kommen“, berichtet Fabian Demmelhuber von der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns. Die Herausforderung dabei sei es, dass Ärzte beurteilen müssen, wie diese erhobenen Daten einzuschätzen sind.

Digitaler Mehrwert: Für Patienten eindeutig, für Ärzte noch unklar

Was sich durch die Digitalisierung im Gesundheitswesen vor allem ändert, ist der Fokus: „Wir haben kein arztzentriertes Gesundheitswesen mehr, sondern es geht immer mehr um den Patienten“, stellt Dr. med. Tobias Gantner fest. Der Geschäftsführer des Netzwerks HealthCare Futurists sieht genau darin aber auch eine Herausforderung: „Viele Ärzte denken immer noch aus dem Selbstverständnis heraus, dass sie der Heiler, der Heiland sind.“ Doch die Zeiten ändern sich: „Wir beugen unsere Knie im Fitnessstudio, nicht in der Kirche und wir bauen Krankenhäuser und keine Kirchen mehr.“

Droht „Dr. Google“ also wirklich, den Hausarzt zu ersetzen, der vielleicht schon deine Eltern behandelt hat und dich seit deiner Geburt kennt? Die Experten sind sich einig, dass der Arzt für den Patienten Ansprechpartner Nummer 1 bleibt. Technologische Entwicklungen wie der digitale Arztbesuch seien keine Bedrohung für niedergelassene Ärzte, sondern eine Chance. Angenommen, es macht technisch und zeitlich keinen Unterschied, ob du per Smartphone deine Symptome googelst oder mit einem Arzt chattest, der sich auskennt – was wäre dir lieber?

Für Dr. Stefan Biesdorf, Principal bei McKinsey, ist es kein Wunder, dass Patienten offener für digitale Lösungen sind, als Ärzte: „Wer als Patient zum Beispiel an einer chronischen Krankheit leidet, nutzt Digital Health, weil er das möchte und einen Nutzen für sich selber sehen kann.“ Außerdem haben Patienten eine große Auswahl an Software, die obendrein gut designt ist – im Gegensatz zum „Arzt, der im Krankenhaus eine spezielle Software für seine Arbeit nutzen muss“, so Biesdorf.

Insgesamt fehlt den Ärzten noch der überzeugende Use Case, ist er der Meinung. „Für die Ärzte läuft das derzeitige Geschäftsmodell noch gut. Mit der Telemedizin kommt aber Veränderung, warum sollten sie Interesse daran haben“, fragt sich auch Gantner.

Unscharfe Definition von Telemedizin erschwert das Vorankommen

Es gilt also, die Ärzte von den Vorteilen von Telemedizin und Co. zu überzeugen. „Man muss den Medizinern die Möglichkeit geben, die digitale Transformation erfahrbar zu machen. Man muss sie befähigen, über Dinge zu sprechen“, rät beispielsweise Dr. Gantner. Die Frage ist: Worüber sprechen wir eigentlich, wenn wir über Telemedizin und Digital Health sprechen?

Selbst die Experten auf dem Telemedizin-Tag sind sich da nicht einig: Dr. Biesdorf verwendet den Begriff beispielsweise gar nicht, sondern spricht stattdessen von E-Health und Digital Health – je nachdem, ob es um die Sicht der Health Professionals oder der Patienten geht. Für Bernhard Calmer, Director Business Development Central Europe bei Cerner Health Services Deutschland, geht der Begriff nicht weit genug, weshalb er auch von Telemonitoring spricht und darin einen viel größeren Hebel als in der reinen Telemedizin sieht.

Klar ist aber: Die Digitalisierung im Gesundheitswesen muss Grenzen zwischen Arzt und Patient überwinden. Es muss eine Nahtlosigkeit in der Patientenverpflegung entstehen – egal über welchen Kanal sie stattfindet, findet Dr. Gantner. Der Einsatz einer Smartphone-Kamera ist ein Anfang, aber noch lange nicht das Ende der digitalen Transformation: „Ich sehe das als Elektrifizierung, nicht als Digitalisierung des Gesundheitswesens“, sagt Bernhard Calmer.

Er schlägt vor: „Wenn Ärzte bereits während des Studiums lernen, Menschen mit moderner Diagnostik zu untersuchen, etwa anhand des digitalen Abbilds eines echten Patienten, dann entsteht erst eine wirkliche Trennung von der bisher erforderlichen räumlichen Nähe.“ Akzeptanz ist das Stichwort. Dieser Meinung ist auch Dr. Johannes Bittner von der Bertelsmann Stiftung: „Es genügt nicht, technologische Innovationen auf den Weg zu bringen. Man muss auch Akzeptanzförderung betreiben.“

Was fehlt sind ein Ziel und Zusammenhalt

„Bei digitaler Gesundheit haben in den letzten Jahren punktuelle Entwicklungen stattgefunden“, führt Bittner aus. Auch für Dr. Tobias Gantner hat die Telemedizin ein strukturelles Problem: „Die Lösungen in Deutschland gleichen einem Flickenteppich und ich frage mich, warum man nur mit den Ärzten spricht, und nicht mit den Patienten?“

„Was fehlt ist ein Zielbild,“ meint Bittner. „Wir trennen im Moment sehr stark zwischen dem konservativen und einem digitalen Gesundheitssystem. Dabei sprechen wir über ein und dasselbe System.“ Auch Fabian Demmelhuber sieht den Schlüssel zur Digitalisierung in der Zusammenarbeit: „Sämtliche Akteure, die im Interesse des Patienten zusammenarbeiten, müssen an einem Strang ziehen, um das gesamte Potenzial der Digitalisierung zu nutzen.“

Bei der Definition eines gemeinsamen Ziels gehe es laut Bittner nicht um das technologisch Machbare, sondern darum, was wir umsetzen wollen: „Wollen wir dem Arzt persönlich gegenübersitzen oder nicht? Wollen wir unsere Daten in digitalen Systemen speichern oder nicht? Mit einem solchen Zielbild können wir die punktuellen Entwicklungen zu einem großen Ganzen zusammenführen.“

Bei all den Dingen, die noch getan werden müssen, bevor wir tatsächlich von einem digitalisierten Gesundheitswesen sprechen können, gibt es auch Lichtblicke. Auf dem Tag der Telemedizin gab es viele Ideen und Entwicklungen zu sehen, die zeigen, wie wir in Zukunft heilen können. Als ein Beispiel nennt Calmer die Künstliche Intelligenz: „Unter Künstlicher Intelligenz in der Medizin versteht man heute vieles – aber vor allem die Bilderkennung ist bereits in der Wirklichkeit angekommen. Damit kann es gelingen, die Qualität der Versorgung bei zunehmender Komplexität bereits heute zu verbessern.“

Welche Position die einzelnen Experten zur Telemedizin einnehmen und welche Hausaufgaben Patienten bei der Digitalisierung noch haben, erfährst du in den einzelnen Fachinterviews.

Sabrina Quente
HIER SCHREIBT Sabrina Quente

Sabrina ist freie Autorin für Versicherungs- und Digitalisierungsthemen. Sie war Redakteurin bei Fachzeitschriften und lernte als Content Editor bei ottonova die vielen Facetten der Versicherungswelt kennen.

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