Kopfschmerzen digital therapieren - ottonova Interview mit Dr. Lars Neeb

Wir haben im Interview mit dem Neurologen Dr. Lars Neeb über digitale Therapiebegleitung bei Migräne gesprochen. Der Oberarzt an der Charité Berlin leitet das Projekt SMARTGEM in Zusammenarbeit mit der Kopfschmerz-App M-Sense, das Migränepatienten eine neue Versorgungsplattform bietet.

ottonova:
Herr Dr. Neeb, sie leiten am Kopfschmerzzentrum der Charité das Projekt SMARTGEM. Ein digitales Begleitprogramm für Migränepatienten, das sich gerade in der Evaluation befindet. Was genau können wir uns darunter vorstellen?

Dr. Lars Neeb:
SMARTGEM ist eine sogenannte neue Versorgungsform, die durch den Innovationsfond des gemeinsamen Bundesausschusses gefördert wird. Durch den Innovationsfonds sollen neue Entwicklungen in der Krankenversorgung gefördert und ihre Effektivität evaluiert werden. Das heißt, wir führen dieses Projekt als neues Angebot an unserer Klinik, aber auch an der Universitätsklinik Halle und Universitätsmedzin Rostock durch, mit denen wir zusammenarbeiten. Das Projekt wird durch eine Studie evaluiert, um zu überprüfen, ob diese Maßnahmen tatsächlich auch einen positiven Effekt bei den Patienten haben.

"SMARTGEM ist ein Angebot für Migränepatienten. Dafür arbeiten wir mit der App M-Sense zusammen, die von dem Berliner Start-up „New Sense Lab“ entwickelt wurde."

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ottonova:
Vielleicht können wir da noch ganz kurz einhaken. Was genau ist denn Migräne? Also was unterscheidet Migräne von anderen Arten der Kopfschmerzen?

Dr. Lars Neeb:
Ein Symptom der Migräne sind Kopfschmerzen, aber die Erkrankung geht über Kopfschmerzen hinaus. Wenn Patienten Migräne-Attacken haben, dann leiden sie zusätzlich unter Begleitsymptomen wie Übelkeit, Erbrechen und häufig eine Lärm- und / oder Licht-Empfindlichkeit. Das Ganze führt dann häufig zu einem Rückzug der Patienten. Teilweise geht dem Kopfschmerz auch noch eine sogenannte Vorbotenphase voraus. Patienten können zum Beispiel vorher missgestimmt sein oder Gerüche anders wahrnehmen, was sie dann auch beeinträchtigt. Im Anschluß an die Kopfschmerzen sind die Patienten häufig müde und abgeschlagen.  Die Migräne ist eine Erkrankung des gesamten Gehirns. Da auch die Hirnhautgefäße eine wichtige Rolle spielen, spricht man von einer neurovaskulären Erkrankung.


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ottonova:
Das klingt nach einer extremen Beeinträchtigung des Alltags für den Patienten. Und da setzt SMARTGEM zusammen mit M-Sense an, um eine Therapiebegleitung während des Alltags zu ermöglichen?

Dr. Lars Neeb:
Wie beeinträchtigt ein Patient insgesamt ist, hängt natürlich auch von der Frequenz der Attacken ab. Jemand der alle zwei Monate eine Attacke hat, der braucht eine gut wirksame Akuttherapie zum Beispiel mit einem Triptan und kann dann ohne große Einschränkung der Lebensqualität leben.

Wenn wir aber bedenken, dass wir viele Patienten bei uns in der Ambulanz behandeln, die mehr als fünf, teilweise 15 bis 20 oder noch mehr Kopfschmerztage im Monat haben, dann sind diese natürlich deutlich in ihrer Lebensqualität eingeschränkt. Diese Patienten brauchen nicht nur eine wirksame Akuttherapie, sondern man muss Maßnahmen ergreifen, um die Frequenz von den Migräneattacken zu senken. Hierbei kommen in vielen Fällen Medikamente zum Einsatz (z.B. Betablocker oder auch Topiramat, ein Medikament aus der Epilepsietherapie). Die medikamentöse Therapie sollte aber immer mit nicht-medikamentösen Verfahren kombiniert werden. Hierzu gehören Entspannungsverfahren, regelmäßiger Ausdauersport, aber auch verhaltenstherapeutische Maßnahmen und Stressmanagement. Und gerade diese Massnahmen können durch eine App gut unterstützt werden.

1. Kopfschmerzkalender

M-Sense ist auf der einen Seite ein Kopfschmerzkalender, in den der Patient regelmäßig seine Migräneattacken und ihre Begleitsymptome eingibt. Hierdurch kann er bestimmte Kopfschmerzmuster erkennen. Weiterhin kann der Patient Faktoren dokumentieren, die den Kopfschmerz beeinflussen können. Er kann zum Beispiel angeben, wie sein Stresslevel war, wie er geschlafen hat oder ob und wieviel Alkohol oder Kaffee er getrunken oder Mahlzeiten ausgelassen hat.

2. Faktorenanalyse & Vorbeugung

Die App nimmt eine Analyse dieser Faktoren vor und versucht anhand eines Algorithmus herauszufinden zu berechnen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Patient eine Migräneattacke entwickelt und kann dann eventuell vorbeugende Maßnahmen ergreifen und somit im besten Fall die Attacke verhindern.

3. Unterstützung bei Entspannung

Weiterhin kann die App zur Durchführung von Entspannungsverfahren wie etwa die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson anleiten und Trainingsprogramme für Ausdauersport zusammenstellen.

4. Edukation

Im Edukationsmodul werden dem Patienten mittels eines Chat-Bots z.B. Tipps zum Stressmanagement und Basis-Verhaltenstherapeutische-Maßnahmen zur Vorbeugung vermittelt.

ottonova:
Hier kommen wir als PKV ins Spiel. M-Sense ist ja eine kostenpflichtige App. Für diagnostizierte Migränepatienten erstattet ottonova sie unter bestimmten Voraussetzungen. SMARTGEM bietet aber auch eine Plattform über die App hinaus. Ist diese dann eine Schnittstelle zwischen Arzt und Patient, um Daten sammeln und diese auch in der Therapie nutzen zu können?

Dr. Lars Neeb:
Richtig, SMARTGEM geht über die alleinige Anwendung der App hinaus. Die App M-Sense ist in die Therapie in dem Kopfschmerzzentrum eingebunden. Darüberhinaus bieten wir eine Plattform an, über die die Patienten die Möglichkeit haben, mit uns kurzfristig in einer Online-Sprechstunde via Chat in Verbindung zu treten. Weiterhin gibt es ein Patientenforum, wo sich Patienten austauschen können. Wir als Ärzte können uns aber auch in das Forum einloggen, die Debatte moderieren und Fragen beantworten.

Über diese Plattform können wir in dem sogenannten Webview, die Kopfschmerzdokumentation unserer Patienten einsehen. Das heißt, wenn der Patient über die Online-Sprechstunde eine Frage stellt, kann ich mich auf seine Dokumentation einloggen und sehe wie der Verlauf seiner Kopfschmerzen ist. So kann der behandelnde Arzt schnell beurteilen, ob die Therapie, die wir angefangen haben, wirksam ist oder nicht und kann ihn daraufhin, unabhängig von der persönlichen Vorstellung, beraten. Durch dieses Instrument können wir schnell und einfach auf Probleme reagieren und sind nicht davon abhängig auf den nächsten Termin in der lokalen Sprechstunde zu warten.

ottonova:
Das heißt, Sie sehen auch grundsätzlich einen Bedarf, die Versorgung auch ortsunabhängig gestalten zu können und schneller auf Daten zugreifen zu können? Ist die ärztliche Versorgung im Moment noch zu langsam oder gibt es das Problem, das noch nicht flächendeckend versorgt werden kann?

Dr. Lars Neeb:
Ja, es gibt, glaube ich, zwei Probleme. Auf der einen Seite haben wir begrenzte Ressourcen im Gesundheitssystem. Wir sehen unsere Patienten normalerweise etwa alle drei oder sechs Monate. Eine kurzfristige Vorstellung, wenn der Patient eine akute Frage hat, ist oft nicht möglich. Viele Patienten kontaktieren uns dann per Email. Aber das ist keine gute Lösung: Die E-Mail ist nicht datensicher und häufig fehlt auch die Zeit auf alle Fragen ausführlich einzugehen. Eine strukturierte Lösung mittels solch einer Online-Sprechstunde gibt die Möglichkeit kurzfristig Ansprechpartner zu sein und so Probleme lösen zu können, ohne auf den nächsten Termin in der Sprechstunde warten zu müssen.

Ein weiteres Problem ist, dass spezialisierte Zentren meist nur in Ballungsgebieten existieren. Patienten, die auf dem Land leben, sind von dieser hochspezialisierten Versorgung häufig ausgeschlossen, insbesondere wenn sie immobil sind. Und gerade für diese Regionen sind zusätzliche digitale Angebote äußerst hilfreich, um das begrenzte Spezialwissen ortsunabhängig anbieten zu können.

ottonova:
Jetzt haben sie ein wichtiges Thema bei digitalen Angeboten angesprochen: Den Datenschutz. Wie genau stellen sie auf der Plattform sicher, dass die Daten sicher sind?

"Die Datensicherheit hat höchste Priorität. Man muss sich diesem schwierigen Thema stellen, auch wenn es kompliziert und mit viel Zeitaufwand verbunden ist."

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Dr. Lars Neeb:
Sehr gute Frage und mit diesem Thema haben wir uns tatsächlich sehr lange mit beschäftigt. Wir haben darauf geachtet, dass wir die Plattform nicht bei einem externen Anbieter hosten, sondern hierfür einen eigenen Webserver in der sicheren IT-Umgebung der Charité eingerichtet. Hierdurch stellen wir sicher, dass die sensiblen Gesundheits-Daten in einer sicheren Umgebung gespeichert werden.

Alle Daten, die wir auf der Plattform speichern, werden nicht unter dem Klarnamen des Patienten, sondern unter einem Pseudonym gespeichert, das heißt eine direkte Verknüpfung der Daten der jeweiligen Personen ist nicht ohne weiteres möglich. Auch wenn wir mit den Patienten über die SmartGem-Plattform chatten wird nur dieses Pseudonym angezeigt. Und nur die Ärzte in dem jeweiligen Studienzentrum haben Zugriff auf den Schlüssel von Pseudonym zu Klarnamen.

Durch diese Massnahmen wollen wir die Daten der Patienten so gut wie möglich vor unberechtigten Zugriffen schützen. Selbst wenn die Seite angegriffe würde, könnten diese pseudonymisierten Daten nicht oder nur sehr schwer mit der Identität des Patienten in Verbindung gebracht werden.

ottonova:
Wir als rein digitale Krankenversicherung stellen fest: Der Aspekt Datenschutz ist ein wichtiger Punkt, um digitale Angebote gerade im Gesundheitsbereich mehrheitsfähiger zu machen und die Akzeptanz zu erhöhen.

Dr. Lars Neeb:
Ja, die Datensicherheit hat höchste Priorität. Man muss sich diesem schwierigen Thema stellen, auch wenn es kompliziert und mit viel Zeitaufwand verbunden ist.

ottonova:
Ja absolut. Jetzt wurden in letzter Zeit auch von staatlicher Seite viele Bemühungen in Richtung einer digitaleren Zukunft von Medizin gemacht: Es wurden Gesetze wie das Digitale-Versorgungs-Gesetz oder das Patienten-Datenschutz-Gesetz erlassen, es gibt Apps auf Rezept. Ist dafür jetzt die richtige Zeit oder hängen wir da in Deutschland hinterher?

Dr. Lars Neeb:
Das kommt sicherlich nicht zur richtigen Zeit – es kommt zu spät. Aber davon abgesehen, ist die aktuelle Entwicklung auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung. Wir haben in der Medizin sicherlich einen Nachholbedarf was Digitalisierung angeht. Einer der Gründe warum wir bei diesem Thema noch nicht so weit sind wie einige andere Länder ist sicher auch der Datenschutz. Aber dennoch denke ich, dass man sich hierfür die Zeit nehmen muss, um mögliche Fehler bei diesem sensiblen Thema zu vermeiden.

Die Covid-19-Pandemie hat natürlich auch nochmal einen digitalen Schub gegeben, auch in der Medizin. So haben wir in der Pandemie in kürzester Zeit Videosprechstunden realisiert. Unter normalen Bedingungen hätte dieses Projekt wahrscheinlich wesentlich länger gedauert.  Das ist eine Entwicklung, von der wir sicher auch langfristig profitieren können.

Mir ist aber wichtig zu betonen, dass Telemedizin und digitale Angebote nichts ersetzen, sondern die Behandlung ergänzen sollen. Der direkte Arzt-Patient-Kontakt ist notwendig und kann nicht durch digitale Angebote ersetzt werden. Digitale Angebote können aber sowohl den Patienten als auch den Arzt unterstützen und helfen bestimmte Prozesse zu vereinfachen und zu verkürzen. Zukünftig werden diese digitalen Angebote sicher auch noch durch künstliche Intelligenz erweitert und es bleibt abzuwarten welche neuen Möglichkeiten sich hierdurch ergeben.


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ottonova:
Funktioniert SMARTGEM darüber hinaus auch im Sinne einer Informationsplattform?

Dr. Lars Neeb:
Genau, es gibt eine Mediathek, in der Patienten grundsätzliche Informationen über Migräne und auch ein paar kleinere Erklär-Filme finden. Bei einer Fortführung des Projektes planen wir das noch weiter auszubauen.

Aber auch die App M-Sense bietet Artikel und Hintergrundinformationen sowohl in der App als auch in einem eigenen Blog. Im optimalen Fall verknüpft man zukünftig die App mit solch einer Plattform, um die direkte Vernetzung mit Arzt und Patient auch aus der App heraus zu ermöglichen, in dem zum Beispiel auf die Online Sprechstunde auch über die App zugegriffen werden kann. Das war in der jetzigen Projektphase nicht möglich, wäre aber für die Zukunft wünschenswert.

ottonova:
Grundsätzlich ist es wichtig, eine Vernetzung zwischen verschiedenen Playern in der Gesundheitsbranche hinzubekommen, um einfach die medizinische Versorgung digitaler und schneller zu machen.

Dr. Lars Neeb:
Ja, diese Vernetzung ist mit einer der wichtigsten Sachen bei digitalen Versorgungsangeboten aber gleichzeitig auch das Problem bei vielen E-Health-Angeboten. Diese sind häufig abgekoppelt vom Arzt und teilweise auch ohne ausreichendes medizinisches Fachwissen entwickelt. Um eine hohe Qualität zu garantieren, ist es notwendig, dass medizinisches Personal und Patienten in der Entwicklung einer App oder eines anderen digitalen Angebots eng eingebunden werden.

ottonova:
Wie wird SMARTGEM denn von den Patienten angenommen. Können Sie zum jetzigen Zeitpunkt schon etwas dazu sagen?

Dr. Lars Neeb:
Wir haben jetzt knapp 600 Patienten im Projekt. Wir bekommen auch weiterhin viele Anfragen und die Patienten, die am Projekt teilnehmen, geben uns überwiegend ein sehr positives Feedback. Sowohl die App als auch die Möglichkeit mit uns über den Chat in Kontakt zu treten, wird sehr gut angenommen. Aber ob die digitale Begleitung den Patienten auch hilft ihre Migräne effektiver zu behandeln, wird uns erst die abschließende Evaluation wirklich beantworten können.

ottonova:
Digitale Produkte müssen sich manchmal den Vorwurf gefallen lassen, dass sie nicht für jeden zugänglich sind. Sehen Sie einen Bedarf nach digitaler Edukation?

Dr. Lars Neeb:
Ehrlich gesagt, nein. Natürlich sind gewisse Gruppen von dem Angebot ausgeschlossen. Aber jemand der älter ist und bisher noch keine Berührung mit einem Smartphone hatte, der wird auch nicht viel Freude daran haben, wenn er jetzt eine App als elektronischen Kopfschmerzkalender nutzen soll. Man muss sich schon klar sein, dass diese Angebote primär auf eine jüngere Patientengruppe ausgerichtet sind. Das ist aber erwartbar. Aber die Gruppe der Leute, die digitale Angebote nutzen, wird auch älter werden.

Anderes sieht es aber aus, wenn Patienten nicht auf solche Angebote zugreifen können, weil das Netz in ihrer Region nicht ausreichend ausgebaut ist. Dieses ist natürlich die Grundvoraussetzung, um die Digitalisierung flächendeckend anbieten zu können.

Aber gerade, weil digitale Angebote nicht für alle in Frage kommen, ist es wichtig, dass diese derzeit nur eine Ergänzung der derzeitigen Behandlungsoptionen sind und diese nicht ersetzen sollen.

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Wer ist Dr. Lars Neeb?

PD Dr. Lars Neeb ist Oberarzt in der Klinik für Neurologie an der Charité und leitet dort das Kopfschmerzzentrum der Charité. Er beschäftigt sich wissenschaftlich hauptsächlich mit der Pathophysiologie von Kopfschmerzerkrankungen und der Effektivität von digitalen Therapien in der Kopfschmerzbehandlung. Dr. Neeb leitet das Projekt SMARTGEM.

Was ist SMARTGEM?


SMARTGEM steht für „Smartphone gestützte Migränetherapie“ als eine neue Versorgungsform in der Migränetherapie. Die neue Versorgungsform besteht aus der Smartphone App M-sense in Verbindung mit digitalen Angeboten, um die Kommunikation zwischen Patienten und Ärzten zu verkürzen. Das Ziel ist es hierdurch die Migränehäufigkeit zu senken und die Lebensqualität der Patienten zu steigern. Die Wirksamkeit von SMARTGEM wird in einer kontrollierten Studie untersucht.

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Marie-Theres Rüttiger
HIER SCHREIBT Marie-Theres Rüttiger

Marie-Theres ist Online Redakteurin bei ottonova. Sie konzipiert den Redaktionsplan, recherchiert und schreibt vor allem über E-Health, InsurTech und digitale Innovation, die das Leben besser machen.

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