Trotzdem gibt es noch immer Unternehmen, die sich davor scheuen, psychische Gesundheit im Arbeitsalltag zu adressieren. „Gerade in Betrieben, in denen viele Männer arbeiten, hört man oft aus der Geschäftsführung, dass die Mitarbeiter vielleicht Probleme mit dem Rücken haben, aber doch nicht mit der Psyche“, so die Erfahrung, die Dr. Tatjana Reichhart gemacht hat. Die promovierte Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie hat Großes vor: Sie will das Thema psychische Gesundheit aus der Stigma-Ecke befreien.
„Ich möchte Menschen davor schützen, krank zu werden“, sagt Tatjana. Deshalb hing sie ihren Klinikjob nach zehn Jahre an den Nagel und gründete 2015 das Coaching- und Seminar-Café „Kitchen2Soul“ in München – das erste und bisher einzige seiner Art. Dort schafft sie einen Raum, in dem Unternehmen, aber auch Coaches und Trainer, über psychische Gesundheit am Arbeitsplatz sprechen können.
Gesundheit fängt im Kopf an – oder auf der Führungsebene
Der Trend in Unternehmen, sich mit neuen Arbeitsmodellen im Sinne von New Work zu beschäftigen, bietet den idealen Rahmen, um alte Strukturen aufzubrechen und dem wichtigen Thema psychische und physische Gesundheit einen höheren Stellenwert im Arbeitsalltag einzuräumen. Und obwohl flachere Hierarchieebenen ein Aspekt bei New Work sind, besteht Tatjana bei der Umsetzung von Gesundheitsthemen auf einen Top-Down-Ansatz: „Es bringt nichts, wenn die Mitarbeiter geschult sind und wissen, wie sie sich in ihrer Resilienz stärken, aber die Führungskräfte sagen, das ist mir doch egal.“
Grundsätzlich ist aber auch die Mitarbeit jedes einzelnen Arbeitnehmers gefragt. „Die Menschen machen sich selber viel Druck“, weiß Tatjana und meint damit nicht nur Druck von außen und ständige Erreichbarkeit. „Es ist vielmehr die Unfähigkeit, sich im Privatleben abgrenzen zu können.“ Denn wer auf der Arbeit gestresst ist, macht sich oft auch in der Freizeit Stress, hetzt von einer selbst gemachten sozialen Verpflichtung zur nächsten.
Wertschätzung, Handlungsspielraum, Gerechtigkeit
Was kann aber der Arbeitgeber überhaupt tun, wenn der Stress über die Grenzen der Arbeit hinaus geht und damit nicht mehr in seinem Einflussbereich liegt? Hier spielt das Thema Eigenverantwortung und Selbstfürsorge eine große Rolle. „Viele Untersuchungen zeigen, dass dieser Bereich sehr gut beeinflussbar ist, egal ob wir dabei über die neue oder alte Arbeitswelt sprechen. Das Wichtigste dabei sind Wertschätzung, Handlungsspielraum, Gerechtigkeit und soziale Unterstützung“, zählt Tatjana auf. „Wenn Führungskräfte und Teams es schaffen, diese Punkte zu leben, fördert das die mentale Gesundheit.“