„Es fehlt der überzeugende Use Case“

5 Fragen zu E-Health und Telemedizin in Deutschland an Dr. Stefan Biesdorf, Principal bei McKinsey.

ottonova: Was bedeutet Telemedizin?

Dr. Stefan Biesdorf: Ich benutze den Begriff Telemedizin ungern, weil er unscharf ist. Ich spreche von E-Health und Digital Health. E-Health umfasst die Technologien, die auf den Arzt ausgerichtet sind. Das können Krankenhausinformationssysteme sein oder Lösungen, die den Arzt bei der Diagnose unterstützen. Auf der anderen Seite steht bei Digital Health der Patient im Mittelpunkt. Er entscheidet, ob er solche Lösungen nutzt oder nicht.

Wie unterscheiden sich die beiden Ansätze?

Digital-Health-Lösungen helfen Patienten, ihre eigene Gesundheit besser zu managen. Das sind zum Beispiel Lösungen für Mental Health, Diabetes-Management oder auch rund um Ernährung und Sport. Dazu zählen aber auch elektronische Buchungssysteme und die Online-Arzt-Beratung. Ob eine solche Lösung funktioniert, hängt davon ab, ob Patienten sie nutzen oder nicht. Beim Arzt dagegen hängt der Erfolg einer Technologie davon ab, ob er ihre Nutzung in seiner Praxis anordnet. Damit entstehen völlig unterschiedliche Erfolgsfaktoren.

Woran liegt es, dass digitale Lösungen bei Ärzten noch wenig verbreitet sind?

Den Ärzten fehlt erstens der überzeugende Use Case für den Einsatz neuer Technologien. Zweitens ist die IT in vielen Krankenhäusern und im Gesundheitswesen per se steinzeitlich. Drittens sind die IT-Systeme sehr fragmentiert und erschweren damit die flächendeckende Vernetzung. Es gibt außerdem bei den Health-Care-Professionals einen hohen Widerstand gegen Veränderung. Hinzu kommt die Frage nach der Nutzenverteilung. Unsere jüngste Untersuchung hat gezeigt, dass das größte Nutzenpotenzial auf Seiten von Ärzten und Krankenhäusern liegt. Das ist ein abweichendes Ergebnis gegenüber Untersuchungen von vor 15 Jahren. Damals fiel der Nutzen überwiegend bei den Krankenkassen an. Dennoch sind die alten Vorbehalte bei den Ärzten noch da.

„Die IT-Systeme im deutschen Gesundheitswesen sind sehr fragmentiert und erschweren die flächendeckende Vernetzung.“

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Welche Möglichkeit gibt es, die Digitalisierung des Gesundheitswesens voranzutreiben?

In den letzten 20 Jahren ist in Deutschland anderen Ländern viel Geld in E-Health geflossen, also in IT- und Connectivity-Lösungen für Health-Care-Professionals. Allerdings sind die Projekte, die damit realisiert wurden, überall hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Es wäre eine gute Idee, die Geldströme in Digital Health umzulenken. Hier sind Start-ups aktiv, die an Vernetzung interessiert sind und dafür die passende IT haben. Ich schätze, dass es für verschiedene spezialisierte Anwendungen weltweit jeweils eine Handvoll guter Anbieter geben wird. Das erleichtert wiederum die Vernetzung mit Digital Professionals. Denn ein Anbieter einer Diabetes-App ist sicher interessiert daran, dass seine Nutzer auf ihrer Online-Reise direkt zu einem Arzt weiterreisen und dabei ihre Daten Huckepack nehmen können.

Was muss also passieren? 

Es müssen Lösungen entwickelt und finanziert werden, die einen klaren Use Case für ihre Nutzer und eine hervorragende User Experience haben. Wichtig ist außerdem, Skalierung gleich von Anfang an denken. Und: Digital Health kennt keine nationalen Grenzen. Bei E-Health hat die Politik vorgegeben, was in Deutschland, Österreich oder Frankreich umgesetzt wird. Dagegen gibt es heute Digital-Health-Lösungen, die teilweise in 27 Ländern genutzt werden. Die EU könnte hier eine interessante Rolle spielen. Kleine Start-ups sind wie Perlen, die einen Orchestrator brauchen, der sie auf eine Kette fädelt. Dafür brauchen wir eine Plattform, auf der kuratierte Apps vertreten sind und die Schnittstellen bietet, um Daten sicher bewegen zu können. Mit Funktionalitäten wir Single-Sign-On können User dann von einer Anwendung zur nächsten weiterreisen.

Vielen Dank für das Gespräch! 

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